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SAH WINTERGEHEN

14. März 2010

-Auszüge –

Collagen einer Kollaboration mit Birger Jesch (2004)

in dieser Online Version angereichert mit Gedichten

von Paul Scheerbart aus seiner „Katerpoesie“ 1909

Ingrimm

Eine wilde Fratze
Muß ich schneiden,
Denn dies Leben
Macht mir keinen Spaß.
O, ich möchte nur
Ein altes Rabenaas
Mit verrückter Wollust
In zehntausend Stücke reißen,
Und dann möcht ich
Hübsche Mädchenköpfe
Balsamieren mit verfaultem Tran
Oder andrer ekler Flüssigkeit.
Und dann möcht ich
In den Himmel springen
Und die Sterne fressen
Und zuletzt:
Den ganzen Lebensunsinn
Ohne weiteres vergessen
Und als Ätherwolke
Traumlos weiterschweben.
Dieses, glaub ich, wird mir
Noch einmal gelingen.

Die Zappelpappeljöhre

Mal ist mir alles astral
Und mal so ganz egal.
Ich kenne den längsten Strahl
Und auch das Jammertal,
Wo ich beinah nicht hingehöre,
O du Zappelpappeljöhre!

Moderne Gassenhauer

Der Eremit ist dick und groß;
Er haßt die Nebenmenschen bloß.
Er liebt nur seine Klause
Und bleibt daher zu Hause.
Die ganze Welt ist ihm Pomade.
Die Nebenmenschen sagen: schade!
Das aber rührt den Teufel nicht.
Hat er nur stets sein Leibgericht,
So ist ihm alles piepe –
Der Haß und auch die Liepe.

Hafentraum

Ich hab in dieser ganzen Nacht
Still wie ein Stall geschlafen.
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Geträumt von tausend Schafen.

Sie waren alle dick und rund,
Ich aber war nicht ganz gesund,
Ich kam allmählich auf den Hund;
Es war in einem Hafen.

In diesem Hafen trank ich viel
Mit großen Welt-Matrosen,
Die spielten Handharmonika
Und mit den tausend Schafen.

Singende Schlangen

Ich war schon wo,
Da ging es wüste zu;
Ich hatte weder Hemd noch Schuh,
Nur grüne Schlangen
In beiden Händen.
Ich konnte mich nicht drehen
Und nicht wenden.
Doch viele Beutelsterne
Drehten sich um meine Arme
Und sahen aus
Wie schlaffe Luftballons.
Die Schlangen aber sangen.

Groglied

In meinen Adern brennt der stramme Grog;
Pompöser Kohl durchrast mein Eingeweide.
Die kalte Nase steckt im Weltgehirn;
Die heißen Hengste führ ich auf die Weide.
Jetzt, Erdenbürger: Leide! Leide! Leide!

Eine Lichthetäre

Wie ein Lichtstrahl war ich einst,
Zuckte hin und her
Durch die Weltenpracht
In dem Äthermeere.
Quintillionen Wettersterne
Hab‘ ich prickelnd angeblickt.
Oh, ich war geschickt –
Eine Lichthetäre.

Abendtöne

Wozu mich mein Schuh drückt?
Das willst du wissen?
Leg dich nur ruhig
Auf dein Ruhekissen;
Es wird zum Luftballon.
Mit dem gehst du davon.
Und deine Locken –
Die werden klingen;
Du sollst mit ihnen,
Da sie rot sind,
Die gelben Sterne umschlingen!
Ach ja, dein verfluchter,
Alter, dammlicher Luftballon
Wird dich weit bringen.

Durch die alte Türe,
Die so herrisch knarrt,
Kommt der Ofenmann
Mit vielen schwarzen Bechern,
Die so traurig sind wie schwarze Briefe.
Na – was will denn der Ofenmann?
Will er den alten Zechern
Die letzten Tropfen schenken?
Der Ofenmann hat kurze Beinchen;
Sein Leib ist ein großes viereckiges Steinchen.
Und auf dem Steinchen sitzt ein Wachskopf –
Der geht natürlich ganz entzwei,
Denn der Ofen ist ja warm.
Und die schwarzen Becher fallen
Diesem alten Ofenmann
Aus den schwarzen alten Händen
Auf die stillen weißen Dielen.
Und der Wein macht die Dielen naß.
Das macht den Zechern Spaß.
Die Beinchen des Ofenmanns
Brechen entzwei.
Und der schwarze Ofen
Steht an der Wand –
wie einst.

Die großen Flammen

So nehm‘ ich denn die Finsternis
Und balle sie zusammen
Und werfe sie, so weit ich kann,
Bis in die großen Flammen,
Die ich noch nicht gesehen habe
Und die doch da sind – irgendwo
Lichterloh …

Der lachende Engel

Wie war’s doch nur?
Im Himmel schwebten
Große blanke Diskusscheiben –
Auf denen drehten sich blutrote Nüsse.
Doch alles schlug ein böser Geist entzwei.
Ein Engel lacht dazu
Und spritzt mit Vitriol.
Jawohl! Jawohl

Ach ja!

Ach ja! Jetzt weiß ich’s ganz genau!
Von Max und Moritz kam ich her!
Die lagen in einem Syrupmeer
Und waren blöde wie der große Stier.
Es kam ein Strahl durch das Revier
Und hüpfte mit uns Dreien.
Das sollte uns bald entzweien.
Nach jenem Trubel durft ich endlich
So selig ruhen auf dem Zuckersterne,
Der mir aus allen seinen Kratern
Ein glückliches Vergessen dampfte.

GESICHTER WURZELN ZWO, DREI, VIER

14. März 2010

– Auszüge –

Collagen aus einer Kollaboration mit Aloys Ohlmann (2004)

in dieser Online-Version angereichert mit Gedichten aus „Der Stiefbruder“

von Georg Kulka, erschienen 1920


Die Welt verzichtet

So vergib dem All, wenn es ans Nichts
Sich wendend, Worte schleift um unbesiegte
(Schädel) Mauern durch den Staub der Verse,
Ausstrich, der es beklemmt, verschollnen Reim

Und Rätselhaftes würgte und erschrak
(Nicht kicherte): Konstruktion! – und
War’s gestillt (nicht mehr), hart blieb,
Statt mitzuleiden, daß die Welt auf Rotation verzichtet!

Ausflucht

Keine Hoffnung saugt aus meiner Stirne
Eine Sendung, die den Schlaf erschlägt!
Freundin über aufgestülptem Hirne,
Ferne witternd, Dächer dunstig trägt.

Trichter schlössen sich, die heiß uns luden –
War es Tod .. (hohl donnert Ungefähr -);
Leben ließen wir wie Jahrmarktsbuden –
War es Leben .. (Schauen streift kein Meer -).

Glanz lebendigen Gesichtes, rund gestrahlt als Ziel,
Hat der Worte fein gezackte Säge
Ganz gespalten, er fällt ins Profil ..
O Vertrauen, daß ein Blatt sich stürzend rege,

Auferlegtem Andrang folge eigenwillig,
Zierlich von Alleinsamkeit belogen,
Nichts verwehe, das es nicht erfüllt; wie billig
War die Hülle, die ihm Gott entzogen ..

Speiend schleudert schmächtiges Gefäß
Meines Munds die trüben Lauen starrend
An die klaffe Klippe Erde, die, gemäß
Ihrem Ur-Sprung, triftiger verharrend,

Jählings wie in aufgeworfne Frau
Ein Entsiegeln mir auch senkt unendlich –
Gold und Schmerzen schimmern ungenau,
Die empörten Pfade werden ländlich,
Kehren ärmer wieder, doch verständlich,
Und ihr Schatten ballt sich blau – :

Eiland schäume, Seitdem zu vergessen,
Wo es leichter fiele, d e i n e Spur zu sammeln
Und Begegnungen; leicht, unermessen,
Wankend quer durchs Grab den Schrei zu stammeln:

„…


…“


Für ein Pferd

I

Schlag Gestampf. Ist dies der letzte Lauf:
Es gibt ein Gutsein, und höret nimmer auf.
Ritt und Rasen verloht.
Es kommt ein Masten nach Fasten. Ich weiß ein Rasten nach Hasten.
Es ist ein sanfter Reiter,
der heißt Tod.

II

Kolonne wuchs dem harten Wald entgegen,
Der näher harrte, daß sie ihn berühre,
Als (Osten Direktion! ..) schmerzliche Schwüre
Ein edles Tier sprach mit dem Abendsegen.

Ein Bein stach, kühner Baum, in Ungewissen
Und trug Gedärm spätgütig zu den Sternen.
Sie erhoben, um sich zu entfernen,
Ihre Augen brandzerrissen.

III

Sei gesegnet. Dein wurden die Gluten,
In denen die Millionen geistern und verbluten.
Da wir in Sappen winden uns, verzehren
Dich Geliebten Götter sich zu Ehren.

Kehrt euch!! Nie werden deine Lippen lachen,
Wenn Wagenräder und Zugslagen krachen.
Nie fassen Halme Hafer deiner Seele.
Nimmer hüten Mauern das Gequäle

Dieser Nächte, Märsche und Erwachen.
Weh, der Arsch ist Höllenrachen.
Flugbahn denkt an alte Melodien.
Ein Pferd starb weltenlang. Die Wiesen knien.


Dem Libanon

Dem Libanon, dem jüngst im Flügelkleide schwärmenden,
Wuchs heut der Regen bleicher aus der Stirne.
Knatternd, als man die Seide zerbrach.
O du hellhöriger höllhärener Morgen!
Der Tag blieb dir im Munde stecken.
Aber die Wolken poltern sich stauend.
Niemand ist beiläufig – wo Regen das Hirn perforiert,
Erschlagene Blutkörner aufpickt.


Die Aktion

Verknaxte und verspukte Blitze splitterten
Sehr leise noch. „Aufs erste Marschkolonne.“ Los.
Fern die gefesselten Gestirne kühl gewitterten
Und sprangen endlich steif in unsern Schoß,

Der sacht verhehlt flankierte das Geheimnis
Und die betäubte Tiefe sich verkürzte,
Eh‘ der Tag, verzichtend auf das liebliche Versäumnis,
Sich in Abend stürzte.

Wer wird das Unverlorne wiederbringen,
Wagt in den imaginären Friedensnischen
Wie in warmgrünem Nebel, daß die Flocken ihn durchdringen –
Daß sich (oh) die Blüthen mischen!

Nun öffnet sie die Hand dem Ende. Beide
Ziele, die das gute Ungeheure wägt,
Wachsen wie ein Baum, der in geduldigem Leide
Unverziehne Demutskrone trägt.

An solchen Schäumens steile Auferstehung
Prallt vielmals Schnee und wirft sich über Haufen.
Versagt die Welt der neuen Marschkolonne Gleichwicht und Drehung -:
Sie hat sich längst in bessre Welt verlaufen.


Die Geschwister

Flucht aus dem Sonntag: in Stadtwüsten fraß er und fronte,
Ausgelaugt von dem Wort und besudelt mit Tat.
Sonntag: o Narbe der Blutschuld, das nicht mehr bewohnte,
Unter Nacht, unter Schnee verschüttete Grab, das er flüchtend betrat,

Der verschlackte, verkohlte, in starre Klumpen geklebte
Schauder im Schauder, Spiegel im Spiegel; Stiefbruder. Ich.
Ich und das lächelnd ins Abblühn hineingelebte
Antlitz, dichtestem Herzen geschwisterlich,

Wir – ein Hekla spällte den Eisberg – landeten
Losgemacht vom Hafen am Herzen Verstehn.
Engel sang nieder, sank zu den selig Gestrandeten,
Um in den Himmel mit uns sprachlos zurückzugehn.

Aufglimmt, auftönt, aufduftet die Stadt, Sonnen schmelzen und stocken.
Engel des Antangs sprach: Vergehet süßer am Licht.
Gespaltne, Entschwisterte fallen ein, rinnen ein ineinander wie Flocken.
Flocken werden zur Wolke. Wolke, dunkele Thräne, Mutter, ist das Gedicht.


Was bedeutet

Und was bedeutete der helle Schnee
Der Leuchtkugeln, die uns zufielen,
Solange Flatterminen sich im Zwitschern üben!
Die mutige Milchstraße ist zu kurz,

Der Mond ersoff in unserm Graben,
Selbst der öde Abklatsch, den man dort sieht,
Läßt sich nicht erweichen.
Aber die Wurzel unsrer dünnen Gestalt

Ist der Tod. Bald decken wir sie auf;
Und stehen nun wieder
Wie erste Menschen in neuer Erde
Und unter dem unermeßlichen Himmel.


Der Haarige

Aus dem Rig-Veda

Der Haarige trägt das Feuer, der Haarige trägt das Gift, der Haarige trägt beide Welten, des Himmels ganzes Licht zur Schau. Dies Gestirn wird der Haarige genannt.
Die vom Wind Gezügelten kleiden sich in schmutzige gelbe Gewänder, im Zug des Windes fahren sie dahin. Denn in sie sind die Götter eingegangen.
Begeistert von der Munnischaft, sind in die Region der Winde wir aufgestiegen; hier oben seht unsere Leiber, ihr Sterblichen.
Durch die Luft hin fliegt er, alle Gestalten beschauend. Der Munni ist jedes Gottes guter Gefährte beim Wohltun.
Das Meer sein Geburtsort, der Himmel seine Stätte, das Meer, das östliche und das westliche, sein Wohnsitz. Er ist des Windes Roß,
Auf der Bahn der Apsarasen, Gandharven und der Vögel wandelnd, kennt er das Begehren. Er ist der süße, der sehr berauschende Freund.
Vaju quirlte ihm den Trank, Vanama zermalmte darin die Gerstenkörner, als der Lichthaarige mit dem Trinker des Gifts, mit Rudra zechte.


Die Städte

Staubstrahlen stöhnen träumend zuzweit Arm unter Arm zur Arbeit hin, qualmen, in silbernem Sude gebadet, spöttisch über die Plakate, branden ins Meer der Naturen unendliche Helle, bevor sie still in Bild- und Bau-: in Menschenwerk versinken. Stadt starrt aus den eingefallenen Kuppeln; schwarze Brücken hängen schwer vom Himmel, im Morgen ducken Dächer sich bestürzt.


So viele Himmel

Ich bücke sehr müd
Deine Schulter.
Fällt sie um,
Sind die Lippen gerettet.
Gewesen wächst aus ihnen
Ins verwachsene Herz.
So viele Himmel rinnen in den Tag:
Ein fein gesponnener Baum durchkreuzt die Himmel.


IM GERADE RÜCKEN DAS LICHT

14. März 2010

– Auszüge –

Collagen einer Kollaboration mit Michael Fox (2001 & 2004)

in dieser online-Version angereichert mit einem Text von Robert Müller

aus seinem Roman „Tropen “ (1915)

»Ich habe Ihnen eine Theorie an die Hand gegeben«, wandte Slim sich mir mit deutlicher Bevorzugung zu, »die Sie glücklich machen könnte.« Er ließ das Wort »glücklich« in einem singenden Tonfall entschweben und lächelte mild. »Ein Leben hat zwei Hände. Das Rechts haben wir entwickelt. Das Links die anderen Rassen. Nehmen Sie sich dieser links liegengelassenen Kultur an, Sie sind ein junger Mann, Sie haben vielleicht Zukunft.« Hier wurde sein Blick schwer, aber in der Art, daß man sich verpflichtet fühlte, dieses Schwerwerden mit Erschütterung zu bemerken.

Wieder stieg ein Verdacht an Slim in mir auf, aber er erlosch sofort an der Herzlichkeit, mit der die folgenden Sätze gesprochen wurden: »Das Leben links – ist näher dem Herzen… Man darf nicht schlecht denken von diesen Witzen, diesen Trugschlüssen der Sprache. Sie enthalten den furchtbarsten Tiefsinn. Ich selbst bekenne mich zum Wortspiele, bin so stolz wie irgendwer auf den persönlichen Geschmack seines Aberglaubens. Napoleons Stern funkelt in einem anderen System als dem astronomischen; und stets hat Aberglaube den Aberglauben am meisten gehaßt; der Glaube allein ist Grandseigneur. Und Worte sind Amulette, mit geheimen Kräften Tiefe anziehend wie der Keim die Stoffe: wer weiß, warum und wie er wächst und

Wir schwiegen. Van den Dusen spielte mit der goldenen Kapsel um seinen Hals.

Slim begann wieder: »Meine Theorie ist kreisrund. Der Wille zur Lust ist sophistisch. Dies Wort ist eine aus der Lust geborene, zur Lust strebende Erkenntnis. Es hat keinerlei Richtigkeit außerhalb seiner für sich. Ich bejahe in ihm, was ich mit ihm verneine. Nun glauben Sie wohl, ich sei kokett. Johnny, Sie halten mich für frivol. Das ist es nicht. Ich bin der Mystiker, der kommt. Ich sage nicht nein! zu dieser Kultur Europas; ich schmähe nicht auf die Reflexion, ich verachte sie nicht, die Analysengeschmeidigkeit dieses getigerten Gehirnes, dieses zweifelgefleckte Wissen, diesen müden Blutdurst der Überzeugung; ich preise sie, ich besinge sie in mir, ich übertreibe sie zu einem ewig neuen Grauen und Wunder – und, Johnny«, sagte er, mich nun auffallend zum zweiten Male beim Namen nennend, während seine Augen schmal wie die Knöpfe von Siegelringen wurden, »lassen Sie sich nichts einreden von mir: es ist wirklich eine Kultur, diejenige des Gehirnes. Und ich habe nur den Einwand zu machen, daß sie nicht genug bunt und übertrieben ist – – -«

»Kultur ist einfacher und strenger Geist«, fiel ich strafend ein, obwohl ich fühlte, daß meine Replik nicht auf der Höhe des Gesprächs stand.

»So ist es. Aber wäre eure Kultur übertriebener, so wäre sie einfacher und strenger als sie ist. Es ist dies, daß sie nicht sonderlich übertrieben und heroisch ist. Sehen Sie denn nicht, Johnny, wie mir Exzeß mit der höchsten Gesundheit identisch ist und daß das Einfache nur das Übertriebene ist? Darum eben ist ja eure Kultur – ich sagte Ihnen schon, Sie sollten mir nicht glauben, ich verführe allzugerne – eben eine Kultur, weil sie übertrieben ist, weil sie das Gehirn überbetont. Und sie ist keine Kultur, – versuchen Sie zu folgen, Sie können es – weil sie zu wenig überbetont. Sie ist so wacker, so philiströs, so von Rechts wegen – so war es nicht immer. Aber so ist es heute. Und sie ist es heute, weil sich rings etwas anderes regt. Seit diese Kultur heute äußerlich die Weltherrschaft antritt, ist sie nicht mehr die stärkste. Ganz andere, ihr abgelegene Dinge, weltverschiedene Perspektiven, ihr geradezu entgegengesetzte Rasse- und Kulturgedanken heben den Kopf – den Kopf, nein, wie soll man sagen: das ihnen sinngemäße Organ. Die Linkserkulturen regen sich. Es geschieht etwas Furchtbares auf dem Erdball, der Akzent springt um.« Er lächelte milde und schien in meinem Gesicht zu lesen. In meinem Hirn und meinem Halse saß ein verdurstetes Sprechen, das nicht flüssig werden konnte. »Sehen Sie um sich! Und verstehen Sie: Ihre Reflexion ist das Einzige, das als Lustinstrument einen Vergleich mit diesem Leben hier standhalten kann.

Das Bewußtsein«, hier drückte sein Gesicht Ekel und Weisheit wie das eines alten verkommenen Fakirs aus, »ist eine Lustmaschine. Versuchen Sie doch, einem von den Ihren die Reflexion zu nehmen – er wird sich immer wieder an der Stelle wundkratzen, wo er sie vermutet. Zudem ist euer Grad von Reflexion nichts so Neues auf dieser Welt. Es ist ein uralter und geschärfter Jägerinstinkt, eine Raubtierbeobachtung, die in euren neurotischen Zuständen aufwacht. Der Neurastheniker ist eine atavistische Jägernatur; das aber ist der monumentale Witz aller Reflexion, aller Psychologie und ebenso alles Nimrodtums: der beste Jäger muß Wild sein können. Er muß alle Arten von Vergnügen umständlich lernen, um zu dem Seinen zu kommen. Nun, und«, sagte Slim gedehnt, »Nummer vier in dieser Reihe ist das, was Ihr Erotik nennt. Andere Kulturen, verzeihen Sie, Rassen kommen schneller zu diesem Resultat. Sie haben die physiologische Seite ihres Lebens ohne Apparat entwickelt. Bei ihnen ist das Bewußtsein noch nicht im Gehirn vergesellschaftet, und Ihr erkennt es nicht, weil es keine Großstadt bildet, sondern als Provinzialismus in den einzelnen Gliedern sitzt. Dabei haben sie sich ein Element der Lust bewahrt, das Ihr darangegeben habt. Das Grauen. Wahrlich, die Seligkeit und der Schrecken sind Schlafkameraden. Das Glück der Faszination geht in den kaukasischen Leibern nicht mehr um! Eure Weiber umarmen keine Gefahren. Hier aber ist Schaudern das direkt gedeckte Erzbedürfnis.«

Ich sah hinüber zu Aruki; sie arbeitete mürrisch, die Sehnsucht wütete in ihren Gliedern und machte sie unfroh. In der Tat, von einem großen Manne, der sonst gleichmütig hinter dem Webstuhl hockte, konnte ihr vielleicht geholfen werden. Aber, war das die ganze Weisheit Slims, und war das alles, womit er sich so pathetisch identifizierte? Warum sagte er stets »euch«?

»Warum sagen Sie stets ›euch‹?« frug ich ihn. »Weil wir hier eben andere Menschen sind. Unser Sinn ist anders. Unsere Wirklichkeit ist gesünder. Wir sind eine Drohung für euch – oh, die Künstler unter euch ahnen es. Zu der Zeit, da ich als junger Student mich in Paris herumtrieb, habe ich die Bekanntschaft eines merkwürdigen Menschen gemacht. Er war ein Maler und hatte seine eigene Anschauung – Anschauung, sage ich. Er begann zu malen, legte es hin, und eines Tages machte er sich davon und tauchte irgendwo im Archipel auf. Ich habe ihn später in Tahiti wiedergetroffen. Er studierte von den Eingeborenen Farbenauffassung und die Fläche und gab sich auch mit dem lustvollen paradiesischen Käferdasein dieser Insulaner ab. Seiner Meinung nach waren sie die einzige, noch junge, unerschöpfte Rasse der Welt. Eine Auffassung, die ich mir nach vielen Reisen gleichfalls angeeignet habe. Sehen Sie sich diesen Punkt unter den Sternen gut an – wenn Europa einstmals eine einzige große Fabriksmetropole sein wird, wird man hier noch zu leben wissen.«

Slim endete hastig, wie von plötzlicher Langeweile ergriffen. Sein Gesicht drückte Unzufriedenheit, vielleicht Scham aus. Vielleicht sollte es das auch ausdrücken. Ich umfaßte mit einem blitzschnellen Verständnis diese ganzen menschlichen Beziehungen seiner Persönlichkeit, die ihn ebensogut ein Kind der geistgesättigten Pariser Luft, wie eine passende Figur dieses Jägeridylls sein ließen. In ihm lag jene Universalität, die auf die tiefsten menschlichen Gründe zurückgeht. Sein Nervensystem war ein Rest Tropen, in ihm war der Geist des Boulevards wieder mit seiner Urform, der animalischen Tiefe des Lebens, eins geworden. Ich ahnte in ihm den Vertreter einer neuen Menschlichkeit. Über sein Verhältnis zu diesen ihm verständlichen Eingeborenensitten mochte er sich einem koketten Irrtum hingeben. Ich reklamierte ihn für den technischen Weltteil. In ihm war die Analyse eine neue Energie geworden.

Während Slim die Straßenkurve hinaufsah und ich meinen strömenden Einfällen freien Lauf ließ, kam Zana daher. Slim sagte laut: »Da kommt Zana.« Die Grillen geigten unverdrossen auf Millionen winziger Violinen und die Nacht war blau über den Hütten aufgehängt. An den Rändern des Horizontes lagen die Sterne dicht beieinander, ein kalkiges weißblaues Licht, wie von einer vagen Mauer zurückgeworfen, faßte das silbern gesträubte Zenith ein. Zana ging vorüber und wir blickten ihr mit einer leisen Rührung nach. Das also war Zana! Ich muß gestehen, ich war ein wenig enttäuscht. Denn ich sah sofort, woher diese eigentümliche Wirkung kam; sie ging von den Beinen aus, die ein wenig knieeng waren; die Kniekehlen spannten sich beim Gehen flach und breit wie kleine Trommeln. Sie hatte tüchtige Waden, aber nun waren da wieder die Füße! Befremdend frei ging sie mit ihnen, wie die Hand eines Klavierspielers über die Tasten. Das rotgrüne Perlenschürzchen schlug kühl und schlank in die Mulde zwischen ihren Schenkeln. Sie ging gerade an uns vorüber, man sah ihren tätowierten Rücken und die gestrafften Kniekehlen, und sie verschwand, während sie die Kurve hinabging, mit einer Achseldrehung. Der volle Wuchs ihrer Schenkel war für einen Augenblick sichtbar. Es waren die Schenkel eines Tieres, kegelförmig und kompakt.

Zana! Wir stopften in den Pfeifen und schlugen nach den Moskitos. Der Rauch von den Zuglöchern der Hütten kam hin und wieder beizend in die Augen. Ich fühlte mich stark, weil mir Zana nicht gefiel. Sie konnte mir nichts anhaben. Mein Geschmack war eben Aruki. Jetzt nachträglich erinnerte ich mich, daß Zana ein kleines, verdrücktes Hundegesicht hatte; eine breite Nase mit einem tiefen Sattel. Und ihre Brüste? An die konnte ich mich wahrhaftig nicht mehr erinnern, wahrscheinlich waren sie nur sehr schwach vorhanden. Das war doch bei Aruki anders!

Ich suchte zum Genuß dieser Situation zu kommen. War es nicht eine seltsame exotische Sache, daß ich hier vor einem indianischen Wigwam saß und mit Slim, dem ersten neuzeitlichen Menschen, tiefsinnige Erörterungen tauschte, während die Weiber hier vorbeigingen und mit jeder Bewegung ihres Körpers um meine günstige Kritik ersuchten? Nun wollen wir uns einmal hineinknien in dieses Mysterium, an dem ich drei Punkte unterscheide: Mich, die exotische Stimmung der Umgebung und meine vollständig neuen Gedanken, die ich Slim soeben ausgesprochen, nein, aber doch geheimnisvoll vermittelt habe – aber da merke ich plötzlich, daß etwas an diesem Kleeblatte nicht in Ordnung ist. Plötzlich war es aus, die Stimmung war verflogen. Ich sah mit einem Male anders, sah die Dinge furchtbar total und deutlich. War es die Überschärfe meines Bewußtseins – dann mußte es sich nach dem soeben gehaltenen sonderbaren Gespräche jetzt um ein besonderes Vergnügen handeln. Und wirklich, ich stand vor einer neuen Rauschart, zu sehen. Ich war gelassen und nahm es, wie es kam. Aber wie kam es? So wie ich es brauchte. Ich brauchte Heimlichkeit, Sicherheit und Realität. Und da war es. Die Exotik und das Stimmungshafte, das mich seit meiner Anwesenheit so stark beherrscht und behelligt hatte, waren überwunden. Ich wußte nun alles, wie es wirklich war. Zana hatte ganz frauenhafte Beine und war auch kein Dämon, und ich sah ein, wie schwer so viel Unbekanntes auf mir gelegen hatte; nun aber war es weg, und ich atmete erleichtert auf. Mit der Exotik war ich fertig. Dies war ein veralteter Standpunkt. Impressionismus?

Er war falsch; er war ein Defekt der Beobachtung. Er war nicht tief, absolut nicht tief. Oh, ihr Exotiker, nun habe ich euch? Welches stammelnde Geschrei, welche Überraschungen und Perspektiven, welches schäbige Glück der Vagheit würdet ihr an meiner Stelle aus diesem Amerika erdichten? Welche Melodien würdet ihr diesem Ansichdasein abhören? Wie sieht nach euch die Wüste aus, ihr kahlstelligen Herzen mit eurer Oasensehnsucht? Drei Kubikzentner Sand auf euer Lügenmaul ist alles, was sie für euch haben sollte. Ich höre und sehe klar. War’s möglich, daß Zana, die Unbekannte, mich solange beunruhigen konnte? Ha, Slim und ich, wir beide sind die modernen Menschen. Bei uns ist die Analyse eine Energie geworden. Nun erhebe ich mich, ich klopfe ruhigen Herzens meine Pfeife aus und begebe mich hungrig zu Slims Gasterei. Ich glaube, er ist heute jagen gewesen. Ja, nicht wahr, ein wundervoller Abend! Das südliche Kreuz ist so nahe, daß ich es mit einer Stange herunterholen könnte, wenn ich auf einer Wolke stünde. Im Herz der Palme nebenan muß eine Grille sitzen. Welch ein Dingelchen, welch ein schwarzer, unerschrockener Arbeitsnerv! Ich liebe Aruki. Aber ich könnte vielleicht auch Zana lieben. Sie hat mich angesehen. Immerhin, um die Knie hat sie etwas, das rührt. Es sieht ein wenig rachitisch aus; möglicherweise ist es nur häßlich. Dennoch. Es liegt eine Menge von Lust in allem Wirklichen. Ja, mit der Stimmung ist es jetzt ein für allemal aus. Das menschliche Bewußtsein ist grausam. Es tötet Stimmungen, liebt Chirurgie, Wunden und Operationen.

Ich sehe dieses Dorf, und es fällt mir nicht ein, es exotisch zu finden. Wenn der Himmel nicht wäre: liegt es auf einer Alpendrift oder unter dem Äquator? Hier ist Arbeit, Betrieb, Geschäft und Transaktion. Eine kleine, niedliche Technik. Die Hauptsache ist, daß sich alles ziemlich eng um den Punkt des Daseins bewegt. Es könnte in einem Ameisenhaufen nicht stimmungsloser hergehen. Jawohl ja, Beobachtung ist alles. Slim hat recht, dieses Leben ist unsereinem im Grunde gar nicht so fremd – nur kompletter ist es. »Nun, Slim, wie denken Sie über ein Abendessen?« Ich ahnte, daß ich mich hier einmal heimisch fühlen würde.

»Passen Sie auf«, sagte Slim, »Zana wird – wird mit uns kommen!«

ICH WAR IN DER MONDRAKETENBAR

13. März 2010

– Auszüge –

Collagen von Frank Milautzcki mit dezenten Elementen von Jürgen Völkert-Marten (2003)

in der Online Version angereichert

mit Gedichten von Friedrich Wilhelm Wagner (1892-1931)

aus seinem Band „Jungfrauen platzen männertoll“ von 1920

In jeder Nacht

In jeder Nacht
Im kalten Monde
Weint ein Tier.

Das Nachthorn klagt
Am Saum der Wälder
Letztes Lied.

Ein Dunkles rinnt
Hinab das Leben
Stumm ins Grab.

Ballon

Ein Ballon bewegt sich leise.
Menschenhälse strecken sich.
Tramways stürzen aus dem Gleise.
Droschkengäule töten sich.

Auf den Dächern tanzen Greise.
Jungfraun platzen männertoll.
Ein Ballon bewegt sich leise,
Lächelnd und sehr würdevoll.

Kleine Stadt

Die Stadt liegt klein
Und grau in grauem Grunde.

In einer schwülen Abenddämmerstunde,
Wenn alles schwiege, auch die Hunde –
Dann könnt es sein:
Ein lautes Wort aus eines Menschen Munde –
Und Alles stürzte ein.

Idyll

In einer Kneipe. Sonntags. Auf dem Land.
Vier Frauen rund um einen Tisch.
Sie waren nicht mehr jung und frisch.
Und eine hatte eine verkrüppelte Hand.

Sie tranken Bier. Und plauderten. Eintönig.
Wobei sie mit den Köpfen nickten.
Und treu sich in die Augen blickten.
Und ihre Busen bebten schon ein wenig.

Bald machten Tränen ihre Augen naß.
Mit heißen Händen schlugen sie die Brüste.
Sie schwelgten wie im Taumel süßer Lüste.
Und kreischten gell. Und wußten selbst nicht was.

Vor dem Gewitter

Wolken rund und regenreif
Lasten auf der Stadt.
Ein begoßner Pudel – mit dem Schweif
Wedelnd – ist satt.

Leise fällt aus matter Hand
Totgeboren eine Tat.
Bebend eine Stimme bat –
Blitze spalten Luft und Land.

Sommertag

Die Sommersonne foltert fürchterlich
Den lahmen Leib. Kein Wind bewegt die Schwüle.
Der Asphalt stinkt. Es faulen die Gefühle.
Ein Droschkengaul verreckt am Sonnenstich.

Lustmörder lauern. Haften hart und heiß
Ist eine Mädchenhand und macht ermatten.
Die kleinen huren blühen blaß. Im Schatten
Steht statuenstarr ein blinder Bettelgreis.

Und von des Lebens fadem Einerlei
Gelangweilt döst auf schattigem Balkone
Und lauscht dem Lärm entfernter Grammophone
Ein fetter, fauler Papagei.

Episode

Auf stiller Promenade –
Die Stadt wird fern und grau –
Lustwandelnd geht die grade
Noch sonneweiße Frau.

Ein Reiter, rauh in Rüsten,
Reitet vorbei ins Land.
Die Frau hebt zu den Brüsten
Hastig hoch die Hand.

In stiller Sommernacht

Von Weiberblicken geil begriffen.
Ein Turnverein. Frisch, fröhlich, fromm und frei.
In stiller Sommernacht. Es hat gepfiffen –
Das war die Polizei.
Die fahndet auf Verbrecher.
Der dicke Mond beschmiert die Häuserdächer.

Im Café

Die Nacht ist langsam vorgeschritten.
Ein Gast klebt noch an meinem Tisch.
Auf einmal, in mein Glas geglitten:
Er schwimmt im Absinthe – dick, ein Fisch.

Bestaunend die Metamorphose,
Ich brech mir den Verstand entzwei.
In meiner Kehle hängt, sehr lose,
Ein gellender Entsetzensschrei.

Café in deutscher Stadt

Ein Kellnerfrack. Der Demut feile Geste
Geduckt ein Dichter nachsinnt neuer Pose.
Der feiste Wirt, in sehr befleckter Hose,
Breit grinsend grüßt die vornehmeren Gäste.

Ein Pikkolo verstummt vor schmalen Frauen.
Er starrt verstört. Die Geigen gurren geil.
Bebauchte Bürger, stämmig, steif und steil,
Glotzblickig blöde, dösen und verdauen.

Kokotten lächeln – sündeseliger Segen.
Sehr provozierend wirken neben fetten
Profitvisagen protzig Epauletten,
Verwelkte Weiber wonnig zu bewegen.

Der Dichter döst. Das Dudeln macht ihn dumm.
Ein grauer Greis sielt sich in Dreckjournalen.
Ein rauher Ruf zerreißt den Raum: „Bezahlen!“
Der Dichter geht. Sehr langsam, träge, krumm.

Welt

Die leeren Lustlokale.
An einem Fenster klebt
Ein kleiner Pikkolo.
Ein schweres Schweigen schwebt
Und liegt gelähmt im Tale.
Am nebligen Kanale
Rasen Rufe roh.
Hunde, herrenlose,
Heulen ungehört.
Der Mond, die große
Greise Himmelsrose,
Stiert verstört.

Gegen Morgen

Schreckhaft schreiten Polizisten.
Steil und stumm. Und stehn versteint.
Lange bei den Abfallkisten,
Die der dicke Mond bescheint.

Leise bleichen die Laternen.
Immer auf demselben Striche,
Unter den erstarrten Sternen,
Humpeln Huren, kümmerliche.

Bummel

In Autos steif die stolzen Offiziere.
Die schmalen Mädchen schmachten augenweit.
Geil gelle Geigen. In Cafés. Bei Biere
Und Zoten macht das Bürgerpack sich breit.

O Lächeln lockend lieblicher Kokotten!
Ein Weib verwelkt. Ein Jüngling sehnt sich sehr.
Die Sonne hat den Himmel rot gesotten.
Ein Schweigen schwillt und macht das Dunkel schwer.

Abend

Der Tag verklang
In einem rosenen Ton.
Das Wasser sang
Sich müde. Es dämmert schon.

Im tiefen Park erwacht
Leis ein Grauen.
Fröstelnd vor der Nacht
Stehn steinerne Frauen.

Der müde Mond

Der müde Mond geht in den Schluchten schlafen.
Weit wilde Wölfe heulen heiß und hart.
Der gute Hirt hockt bei seinen Schafen.
Die Stunden stehn. Die Sterne sind erstarrt.

Kein Wind ist wach. Kein Ruf erregt die Räume.
Auf fernem Felde furchtbar tobt die Schlacht.
Ein Kind weh weint auf Trümmern trüber Träume.
Besoffne Bürger. Eine Hure lacht.

DIE COLLAGE ERFINDET DAS MÖGLICHE

13. März 2010

Über ein Projekt mit Kollaborationsbüchern

Collagen sind lange schon in. In der Hauptsache die Dadaisten haben uns den Weg gewiesen und aus Abfallpapieren und Presse der Zeit intensive Ausrufezeichen collagiert – „soweit ist es mit der Welt gekommen – auf den Telegrafenmasten sitzen die Kühe und spielen Schach!“ Richard Huelsenbeck – die zeigen, daß Kunst durch Zerstörung von altem Sinn und Routine, von Tradition und Muster, neu zusammengesetztes Bewusstsein hervorbringen kann, daß aus dem scheinbar Sinnlosen und aus zur Sprengung gebrachten Begriffen intuitiv anregende neue Weltsichten wachsen und um sich greifen können, die weder beabsichtigt noch vorhersehbar waren.

DADA Collage Raoul Hausmann

In Verlängerung des respektlosen Dada-Gebahrens und mit der Einführung des Gedankens des Recyclings als Kunstmöglichkeit in die Alltagswelt, hat sich das Collagieren in der Welt der Untergrund-Zeitungen der 60er Jahre bis hin zu den Fanzines und Punk-Zeitschriften der 80er Jahre und anderen Underground-Projekten als kunstvolles Stilmittel bewahrt und den sinnzerstörenden Charakter einer respektlosen Kunst in einen respektlosen Umgang mit Copyrightrechten und ein neuen Sinn stiftendes Recycling gewandelt. Ich denke dabei z.B. Rolf Dieter Brinkmanns legendäre Umschlagcollage für seinen Gedichtband „Die Piloten“, an Josef Wintjes’ legendäres Ulcus Molle Info, das eine ganz eigene Ästhetik über Jahrzehnte bewahrte, an Raymond Martins PÄNG, Werner Piepers KOMPOST, an die unzähligen studentischen und friedensbewegten bis anarchistischen Zeitschriften der 68er und Nach-68er bis hin zur Graswurzelrevolution. Zeitungen gestalten hieß: klauen & kleben was das Zeug hält.

Als altem Zeitungsmacher und Selbst-Lay-Outer[1] ist mir das schon seit Mitte der siebziger Jahre selbstverständlich – in Ermangelung eigener Grafik wurde aus allen möglichen Quellen zusammengeschnippelt und benutzt, was schwarzweiß genug war; mein Schatz war eine ausgediente Pralinenschachtel übervoll mit Schnipseln, ausgeschnittenen Grafikelementen, Lettersetfolien etc.. LAY-OUT, das Zauberwort für ansprechende ästhetische Präsenz, war für mich strenggenommen ein Collagieren, ein Zueinanderbringen und Miteinanderverbinden und immer auch ein haptisches Erlebnis mit Schere, Tipp-Ex, Papier, Klebstoff, verklebten Fingern.

Collagen sind im Umkreis der Mail-Art ein stark genutztes Ausdrucksmittel, sie sind für jeden erstellbar, und führen zu ebenso individuellen Ergebnisse wie der Pinselstrich. So waren Collagen eine rasche frühe Liebe bei meinen ersten Kontakten zur Mail-Art-Welt und wurden es im Zeitalter des w³ noch mehr.

In der Mail-Art-Welt entwickelte sich, eher zwangsläufig als zufällig, die Idee, verschiedene Menschen an ein und demselben Bild per Collagieren mitwirken zu lassen und entsprechend gibt es dort regelrechte Spezialisten, die das dualistische Add + Return ausgeweitet haben zu einem Rundbrief-Modell. Und eine weitere Idee befällt früher oder später jeden, der einmal in einem kreativ brauchbaren Dialog mit einem anderen Künstler stand und das Resultat einer ersten Zusammenarbeit vor sich hat. Ideen entstehen rasch und ohne Vorwarnung – eine ungeahnte Liaison zweier eigentlich voneinander unabhängiger Gedanken, dazu eine Vision, ein aufscheinender Pfad. Die Idee bindet aneinander, was zu ihr gehört und sortiert die Wirklichkeit in brauchbare Quanten. So korrodiert das Denken des Unmöglichen und macht Raum für Undenkbares möglich. Die Idee der Kollaboration entsteht. Kollaboration[2] als künstlerischer Dialog.

Die Idee zu so einem  Projekt ist nicht meine eigene. Sie ist Bestandteil und Instrument der Mail-Art schon seit langem und zeigt stellvertretend den inspirierend anarchischen Charakter dieser Kunst, die sich über Eigenschaften und nicht über Stil und Inhalt definieren lässt. Der Gedanke, individuellen künstlerischen Ausdruck gleichberechtigt miteinander zu verbinden, liegt allen Mail-Art-Unternehmungen zu Grunde. Meist verwirklicht in Ausstellungen und damit in einem Nebeneinander. Einige Mail-Artisten gehen weiter und stellen nicht einzelne Kunstwerke in einen demokratischen Konsens, sondern erstellen gemeinsam das Kunstwerk. Indem eine Vorlage zu einem Partner geschickt wird, der frei darüber verfügen und darauf weiterarbeiten kann, vertraut man ihm grenzenlos das Eigene in seiner künstlerisch extrahierten Erscheinung an. Starke Partner geben grenzenlos das Ihre dazu und so entstehen Werke aus der Konfrontation und dem gewollten, friedlichen Konflikt zweier persönlicher Kunstwelten, die von keinem einzeln zu leisten gewesen wären. Je intensiver die individuelle Mythologie gelebt und in der Kunst manifest ist, um so intensiver ist der Konflikt und überraschender sind die Resultate. So können Grenzen des Eigenen verschoben, erweitert, überhaupt geschaut werden und so kann Verstehen eine besondere Form annehmen, die aus der ichlosen Mitte eine vielseitigere Wahrheit der Welt zu generieren hilft.

Das erste Mal tauchte die Idee zu diesem Projekt auf in einer Korrespondenz mit Michael Fox, dem Hildesheimer Mail-Artisten. Sie verknüpfte seine eigenwillige Art der Collage, die er dezent und spartanisch auf grellfarbene, selbst hergestellte Hintergründe komponiert mit meiner Liebe zu eher improvisierender Schwitterschen Form- und Materialkombination und zu surrealen Elementen. Ich hatte ihm Seiten vorgelegt, die er in souveräner Manier zu Hintergründen und Bestandteilen seiner ganz eigenen Collagen machte und ein kurzer heftiger Briefwechsel hob an (der irgendwann aufgrund meiner Phasensprünge in Sachen Kunst und/oder Leben jäh abbrach) – Resultat war ein spiralgebundenes Buch mit den ersten Seiten Kollaborationen.

Schon die Tatsache, daß Michael Fox diese spezielle Bindung benutzte, die normalerweise Bürodamen reserviert ist, um Werbebroschüren & Industrieangebote individualisiert und repräsentierend zusammenzufassen, und eigentlich nicht um Kunstbände zu erstellen, das hatte etwas – aufmüpfig, trotzig, pourqoui pas? Einfach und funktionell und der ursprünglichen Verwendung entfremdet. Ja, so konnte man das machen. Und so konnte man die Blätter noch ungebunden in die Welt schicken, die handwerklich wesentlich einfacher (auch intensiver) zu bearbeiten waren, als wenn sie vorneherein eingebunden wären.

Also schickte ich solche Blätterensembles in die Welt, ich nannte sie „Vorlagenbücher“, waren im Prinzip nur ein Sammelsurium angefangener Collagen, Texturen, Hintergründe mit wenigen ersten Elementen. Das einzelne Blatt sollte schon eine Vorgabe machen, aber noch nicht zu fertig sein, es sollte inspirieren aber nicht einengen und die Reihenfolge der Seiten war offen. Ich sandte in oft großen Abständen nur wenigen Menschen so ein „Vorlagenbuch“, nicht wahllos in die Mail-Art-Welt hinein, sondern bewusst einzelnen Personen, mit denen ich in vertrauensvollen Kontakt geraten war und von denen ich sicher sein konnte, daß sie die Mühe nicht scheuen würden, so ein Buch zu bearbeiten.

Hintergrund war von Anfang an auch, daß die Bücher eines Tages ausgestellt werden würden. Nicht nur – in Auszügen –  auf dieser website,  was eigentlich nur so eine Art Zwischenbilanzierung ist, sondern irgendwann am Ende, wenn eine bestimmte Anzahl erreicht sein wird und das Projekt damit zu Ende geht und dann in konservativer, physischer Form.
Über die letzten Jahre sind bis heute 14 solcher handgearbeiteten Bücher zusammengekommen und sie sind mir ein großer Schatz, denn sie drücken in etwa das aus, was mir an einem persönlichen Netzwerk gut und teuer ist – daß man sich Mühe miteinander macht, daß man füreinander fraglos Energien einbringt, ohne jemals eine andere Dimension als die des Persönlichen und der persönlichen Kunst und Kunstfertigkeit einzubeziehen. Da fragt niemand nach Nutzen, nach Kosten, nach Gewinn oder Verlust. Hier ist eine tatsächlich anarchische Welt zuhause und es liegt dem ein freier Geist zugrunde, der so andernorts nicht mehr zu verwirklichen ist. Wer sich auf das Spiel einläßt, hat die Regeln assimiliert. Regeln, die im Eigentlichen sagen: Tu was Du willst, aber tue es richtig – halte nicht hinterm Berg, sei fair dadurch, daß du dich wirklich einbringst – auf das jeweils vor einem liegende Blatt bezogen heißt das: überklebe, übermale, entferne, füge hinzu, äußere dich s/w oder in Farbe, großflächig oder im Detail – ganz wie es dir, deinem Naturell entspricht. Die Collage ist dazu ja auch ein ideales Mittel, da es in der Wirklichkeit vor keiner Technik haltmacht: man kann auch Worte zueinanderbringen (Cut-Ups), man kann auch Bildinhalte zeichnerisch verbinden (irgendein Kunstforscher meint neuerdings herausgefunden zu haben, daß der größte Teil des Werks von Max Ernst[3] dem Prinzip der Collage unterliegt, auch die Frottagen, die Gemälde und die Zeichnungen – demnach aber, ganz konsequent zu Ende gedacht, wäre fast alle moderne Kunst diesem Prinzip unterworfen, denn streng genommen bringt der Künstler immer Dinge zueinander, kombiniert Inhalte, Formen, Farben), man kann per Hand Kolorieren, Demontieren und und und. Man kann machen und tun in diesen Vorlagenbüchern (die ja zunächst nur vor einem liegende Blätter sind, aber immerhin bis zu 40 Seiten je „Vorlagenbuch“ und damit nicht in einem schnellen Aufwasch zu erledigen, sondern zwangsweise über längere Zeit, von Zeit zu Zeit), was immer man möchte. Auch Angst zeigen und Muffe haben.

Kurt Schwitters

Und so erreichten mich auch „bearbeitete“ Bücher[4], die kaum fremde Spuren aufwiesen, die schüchtern das Vorgelegte ergänzt hatten, mit feinem Strich zu erweitern versuchten, aber auf irgendeine Art und Weise unfertig schienen, weil wohl in zu großem Respekt vor dem Vorgelegten entstanden (oder im Zweifel über die eigene Leistung) – diese Bücher gingen dann noch einmal durch meine Hand – das behielt ich mir vor, daß auch ich noch einmal wirken konnte, verstärken, abschwächen, draufhauen, streicheln, wenn ich es für notwendig hielt. In den allerallermeisten Fällen aber war das Buch fertig, wenn es zurückkam, eindeutig und nicht mehr zu ändern.

So kann das Prinzip der Collage, das Erfinden des Möglichen, zu einem Prinzip einer Zwiesprache werden – in der Kollaboration werden personale Grenzen gerade durch ihre konkrete Setzung und bewußte Definition auf einem gemeinsamen Blatt aufgelöst und damit neues Terrain gefunden, so paradox das klingen mag. Je persönlicher die Stellungnahme des Einzelnen, das Additiv, umso lebendiger der Dialog, das Ensemble, umso einzigartiger die Zwiesprache und ihr Resultat, und um so grenzenauflösender die Wirkung. Der Zwischenmensch wird hier erfunden, einer der mit dem anderen kann, der sich mit dem Anderen nicht stößt, sondern erst durch ihn und mit ihm zum Leben kommt.

Frank Milautzcki, Klingenberg den 23.05.2006


[1] Für mich begann es mit der Schülerzeitung des Gymnasiums, wir machten eine Sondernummer über Gedichte aus dem Knast und wurden glatt verboten. Dann gaben wir eine unabhängige Jugendzeitschrift heraus, schließlich folgten ein Versand für alternative Literatur und später auch ein Cassettenlabel mit angeschlossenem Independent Vertrieb. Schließlich wollten die Rock- und Jazzkapellen aus der Gegend eigene Plakate haben und das Jugendzentrum lud zu irgendwas ein – so gab es immer Verwendung für den Self-made-Layouter.

[2] Kollaboration bezieht sich für mich und meine Projekte immer auf die Zusammenarbeit mit jeweils nur einem weiteren anderen Künstler.

[3] Max Ernst gibt auch eine sehr sinnvolle und brauchbare Definition der Collage: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.

[4] Es liegt manchmal auch in der Natur der Sache, weil bisweilen Bearbeitungen auch von dichtenden Kollegen erfolgten, die im Bildnerischen weder geübt noch bewandert sind und so sich Impulse oft eher aus der Zufügung von Text und textähnlichen Strukturen ergaben. Eine Lieblingsidee ist mir – by the way – auch das gemeinsame Verfertigen von Gedichten, wie es einmal Rainer Brambach und Jürg Federspiel gemacht haben, indem Textpassagen aufeinander aufbauten und Verse nacheinander zueinander fanden.