Posts Tagged ‘Collage’

IM GERADE RÜCKEN DAS LICHT

14. März 2010

– Auszüge –

Collagen einer Kollaboration mit Michael Fox (2001 & 2004)

in dieser online-Version angereichert mit einem Text von Robert Müller

aus seinem Roman „Tropen “ (1915)

»Ich habe Ihnen eine Theorie an die Hand gegeben«, wandte Slim sich mir mit deutlicher Bevorzugung zu, »die Sie glücklich machen könnte.« Er ließ das Wort »glücklich« in einem singenden Tonfall entschweben und lächelte mild. »Ein Leben hat zwei Hände. Das Rechts haben wir entwickelt. Das Links die anderen Rassen. Nehmen Sie sich dieser links liegengelassenen Kultur an, Sie sind ein junger Mann, Sie haben vielleicht Zukunft.« Hier wurde sein Blick schwer, aber in der Art, daß man sich verpflichtet fühlte, dieses Schwerwerden mit Erschütterung zu bemerken.

Wieder stieg ein Verdacht an Slim in mir auf, aber er erlosch sofort an der Herzlichkeit, mit der die folgenden Sätze gesprochen wurden: »Das Leben links – ist näher dem Herzen… Man darf nicht schlecht denken von diesen Witzen, diesen Trugschlüssen der Sprache. Sie enthalten den furchtbarsten Tiefsinn. Ich selbst bekenne mich zum Wortspiele, bin so stolz wie irgendwer auf den persönlichen Geschmack seines Aberglaubens. Napoleons Stern funkelt in einem anderen System als dem astronomischen; und stets hat Aberglaube den Aberglauben am meisten gehaßt; der Glaube allein ist Grandseigneur. Und Worte sind Amulette, mit geheimen Kräften Tiefe anziehend wie der Keim die Stoffe: wer weiß, warum und wie er wächst und

Wir schwiegen. Van den Dusen spielte mit der goldenen Kapsel um seinen Hals.

Slim begann wieder: »Meine Theorie ist kreisrund. Der Wille zur Lust ist sophistisch. Dies Wort ist eine aus der Lust geborene, zur Lust strebende Erkenntnis. Es hat keinerlei Richtigkeit außerhalb seiner für sich. Ich bejahe in ihm, was ich mit ihm verneine. Nun glauben Sie wohl, ich sei kokett. Johnny, Sie halten mich für frivol. Das ist es nicht. Ich bin der Mystiker, der kommt. Ich sage nicht nein! zu dieser Kultur Europas; ich schmähe nicht auf die Reflexion, ich verachte sie nicht, die Analysengeschmeidigkeit dieses getigerten Gehirnes, dieses zweifelgefleckte Wissen, diesen müden Blutdurst der Überzeugung; ich preise sie, ich besinge sie in mir, ich übertreibe sie zu einem ewig neuen Grauen und Wunder – und, Johnny«, sagte er, mich nun auffallend zum zweiten Male beim Namen nennend, während seine Augen schmal wie die Knöpfe von Siegelringen wurden, »lassen Sie sich nichts einreden von mir: es ist wirklich eine Kultur, diejenige des Gehirnes. Und ich habe nur den Einwand zu machen, daß sie nicht genug bunt und übertrieben ist – – -«

»Kultur ist einfacher und strenger Geist«, fiel ich strafend ein, obwohl ich fühlte, daß meine Replik nicht auf der Höhe des Gesprächs stand.

»So ist es. Aber wäre eure Kultur übertriebener, so wäre sie einfacher und strenger als sie ist. Es ist dies, daß sie nicht sonderlich übertrieben und heroisch ist. Sehen Sie denn nicht, Johnny, wie mir Exzeß mit der höchsten Gesundheit identisch ist und daß das Einfache nur das Übertriebene ist? Darum eben ist ja eure Kultur – ich sagte Ihnen schon, Sie sollten mir nicht glauben, ich verführe allzugerne – eben eine Kultur, weil sie übertrieben ist, weil sie das Gehirn überbetont. Und sie ist keine Kultur, – versuchen Sie zu folgen, Sie können es – weil sie zu wenig überbetont. Sie ist so wacker, so philiströs, so von Rechts wegen – so war es nicht immer. Aber so ist es heute. Und sie ist es heute, weil sich rings etwas anderes regt. Seit diese Kultur heute äußerlich die Weltherrschaft antritt, ist sie nicht mehr die stärkste. Ganz andere, ihr abgelegene Dinge, weltverschiedene Perspektiven, ihr geradezu entgegengesetzte Rasse- und Kulturgedanken heben den Kopf – den Kopf, nein, wie soll man sagen: das ihnen sinngemäße Organ. Die Linkserkulturen regen sich. Es geschieht etwas Furchtbares auf dem Erdball, der Akzent springt um.« Er lächelte milde und schien in meinem Gesicht zu lesen. In meinem Hirn und meinem Halse saß ein verdurstetes Sprechen, das nicht flüssig werden konnte. »Sehen Sie um sich! Und verstehen Sie: Ihre Reflexion ist das Einzige, das als Lustinstrument einen Vergleich mit diesem Leben hier standhalten kann.

Das Bewußtsein«, hier drückte sein Gesicht Ekel und Weisheit wie das eines alten verkommenen Fakirs aus, »ist eine Lustmaschine. Versuchen Sie doch, einem von den Ihren die Reflexion zu nehmen – er wird sich immer wieder an der Stelle wundkratzen, wo er sie vermutet. Zudem ist euer Grad von Reflexion nichts so Neues auf dieser Welt. Es ist ein uralter und geschärfter Jägerinstinkt, eine Raubtierbeobachtung, die in euren neurotischen Zuständen aufwacht. Der Neurastheniker ist eine atavistische Jägernatur; das aber ist der monumentale Witz aller Reflexion, aller Psychologie und ebenso alles Nimrodtums: der beste Jäger muß Wild sein können. Er muß alle Arten von Vergnügen umständlich lernen, um zu dem Seinen zu kommen. Nun, und«, sagte Slim gedehnt, »Nummer vier in dieser Reihe ist das, was Ihr Erotik nennt. Andere Kulturen, verzeihen Sie, Rassen kommen schneller zu diesem Resultat. Sie haben die physiologische Seite ihres Lebens ohne Apparat entwickelt. Bei ihnen ist das Bewußtsein noch nicht im Gehirn vergesellschaftet, und Ihr erkennt es nicht, weil es keine Großstadt bildet, sondern als Provinzialismus in den einzelnen Gliedern sitzt. Dabei haben sie sich ein Element der Lust bewahrt, das Ihr darangegeben habt. Das Grauen. Wahrlich, die Seligkeit und der Schrecken sind Schlafkameraden. Das Glück der Faszination geht in den kaukasischen Leibern nicht mehr um! Eure Weiber umarmen keine Gefahren. Hier aber ist Schaudern das direkt gedeckte Erzbedürfnis.«

Ich sah hinüber zu Aruki; sie arbeitete mürrisch, die Sehnsucht wütete in ihren Gliedern und machte sie unfroh. In der Tat, von einem großen Manne, der sonst gleichmütig hinter dem Webstuhl hockte, konnte ihr vielleicht geholfen werden. Aber, war das die ganze Weisheit Slims, und war das alles, womit er sich so pathetisch identifizierte? Warum sagte er stets »euch«?

»Warum sagen Sie stets ›euch‹?« frug ich ihn. »Weil wir hier eben andere Menschen sind. Unser Sinn ist anders. Unsere Wirklichkeit ist gesünder. Wir sind eine Drohung für euch – oh, die Künstler unter euch ahnen es. Zu der Zeit, da ich als junger Student mich in Paris herumtrieb, habe ich die Bekanntschaft eines merkwürdigen Menschen gemacht. Er war ein Maler und hatte seine eigene Anschauung – Anschauung, sage ich. Er begann zu malen, legte es hin, und eines Tages machte er sich davon und tauchte irgendwo im Archipel auf. Ich habe ihn später in Tahiti wiedergetroffen. Er studierte von den Eingeborenen Farbenauffassung und die Fläche und gab sich auch mit dem lustvollen paradiesischen Käferdasein dieser Insulaner ab. Seiner Meinung nach waren sie die einzige, noch junge, unerschöpfte Rasse der Welt. Eine Auffassung, die ich mir nach vielen Reisen gleichfalls angeeignet habe. Sehen Sie sich diesen Punkt unter den Sternen gut an – wenn Europa einstmals eine einzige große Fabriksmetropole sein wird, wird man hier noch zu leben wissen.«

Slim endete hastig, wie von plötzlicher Langeweile ergriffen. Sein Gesicht drückte Unzufriedenheit, vielleicht Scham aus. Vielleicht sollte es das auch ausdrücken. Ich umfaßte mit einem blitzschnellen Verständnis diese ganzen menschlichen Beziehungen seiner Persönlichkeit, die ihn ebensogut ein Kind der geistgesättigten Pariser Luft, wie eine passende Figur dieses Jägeridylls sein ließen. In ihm lag jene Universalität, die auf die tiefsten menschlichen Gründe zurückgeht. Sein Nervensystem war ein Rest Tropen, in ihm war der Geist des Boulevards wieder mit seiner Urform, der animalischen Tiefe des Lebens, eins geworden. Ich ahnte in ihm den Vertreter einer neuen Menschlichkeit. Über sein Verhältnis zu diesen ihm verständlichen Eingeborenensitten mochte er sich einem koketten Irrtum hingeben. Ich reklamierte ihn für den technischen Weltteil. In ihm war die Analyse eine neue Energie geworden.

Während Slim die Straßenkurve hinaufsah und ich meinen strömenden Einfällen freien Lauf ließ, kam Zana daher. Slim sagte laut: »Da kommt Zana.« Die Grillen geigten unverdrossen auf Millionen winziger Violinen und die Nacht war blau über den Hütten aufgehängt. An den Rändern des Horizontes lagen die Sterne dicht beieinander, ein kalkiges weißblaues Licht, wie von einer vagen Mauer zurückgeworfen, faßte das silbern gesträubte Zenith ein. Zana ging vorüber und wir blickten ihr mit einer leisen Rührung nach. Das also war Zana! Ich muß gestehen, ich war ein wenig enttäuscht. Denn ich sah sofort, woher diese eigentümliche Wirkung kam; sie ging von den Beinen aus, die ein wenig knieeng waren; die Kniekehlen spannten sich beim Gehen flach und breit wie kleine Trommeln. Sie hatte tüchtige Waden, aber nun waren da wieder die Füße! Befremdend frei ging sie mit ihnen, wie die Hand eines Klavierspielers über die Tasten. Das rotgrüne Perlenschürzchen schlug kühl und schlank in die Mulde zwischen ihren Schenkeln. Sie ging gerade an uns vorüber, man sah ihren tätowierten Rücken und die gestrafften Kniekehlen, und sie verschwand, während sie die Kurve hinabging, mit einer Achseldrehung. Der volle Wuchs ihrer Schenkel war für einen Augenblick sichtbar. Es waren die Schenkel eines Tieres, kegelförmig und kompakt.

Zana! Wir stopften in den Pfeifen und schlugen nach den Moskitos. Der Rauch von den Zuglöchern der Hütten kam hin und wieder beizend in die Augen. Ich fühlte mich stark, weil mir Zana nicht gefiel. Sie konnte mir nichts anhaben. Mein Geschmack war eben Aruki. Jetzt nachträglich erinnerte ich mich, daß Zana ein kleines, verdrücktes Hundegesicht hatte; eine breite Nase mit einem tiefen Sattel. Und ihre Brüste? An die konnte ich mich wahrhaftig nicht mehr erinnern, wahrscheinlich waren sie nur sehr schwach vorhanden. Das war doch bei Aruki anders!

Ich suchte zum Genuß dieser Situation zu kommen. War es nicht eine seltsame exotische Sache, daß ich hier vor einem indianischen Wigwam saß und mit Slim, dem ersten neuzeitlichen Menschen, tiefsinnige Erörterungen tauschte, während die Weiber hier vorbeigingen und mit jeder Bewegung ihres Körpers um meine günstige Kritik ersuchten? Nun wollen wir uns einmal hineinknien in dieses Mysterium, an dem ich drei Punkte unterscheide: Mich, die exotische Stimmung der Umgebung und meine vollständig neuen Gedanken, die ich Slim soeben ausgesprochen, nein, aber doch geheimnisvoll vermittelt habe – aber da merke ich plötzlich, daß etwas an diesem Kleeblatte nicht in Ordnung ist. Plötzlich war es aus, die Stimmung war verflogen. Ich sah mit einem Male anders, sah die Dinge furchtbar total und deutlich. War es die Überschärfe meines Bewußtseins – dann mußte es sich nach dem soeben gehaltenen sonderbaren Gespräche jetzt um ein besonderes Vergnügen handeln. Und wirklich, ich stand vor einer neuen Rauschart, zu sehen. Ich war gelassen und nahm es, wie es kam. Aber wie kam es? So wie ich es brauchte. Ich brauchte Heimlichkeit, Sicherheit und Realität. Und da war es. Die Exotik und das Stimmungshafte, das mich seit meiner Anwesenheit so stark beherrscht und behelligt hatte, waren überwunden. Ich wußte nun alles, wie es wirklich war. Zana hatte ganz frauenhafte Beine und war auch kein Dämon, und ich sah ein, wie schwer so viel Unbekanntes auf mir gelegen hatte; nun aber war es weg, und ich atmete erleichtert auf. Mit der Exotik war ich fertig. Dies war ein veralteter Standpunkt. Impressionismus?

Er war falsch; er war ein Defekt der Beobachtung. Er war nicht tief, absolut nicht tief. Oh, ihr Exotiker, nun habe ich euch? Welches stammelnde Geschrei, welche Überraschungen und Perspektiven, welches schäbige Glück der Vagheit würdet ihr an meiner Stelle aus diesem Amerika erdichten? Welche Melodien würdet ihr diesem Ansichdasein abhören? Wie sieht nach euch die Wüste aus, ihr kahlstelligen Herzen mit eurer Oasensehnsucht? Drei Kubikzentner Sand auf euer Lügenmaul ist alles, was sie für euch haben sollte. Ich höre und sehe klar. War’s möglich, daß Zana, die Unbekannte, mich solange beunruhigen konnte? Ha, Slim und ich, wir beide sind die modernen Menschen. Bei uns ist die Analyse eine Energie geworden. Nun erhebe ich mich, ich klopfe ruhigen Herzens meine Pfeife aus und begebe mich hungrig zu Slims Gasterei. Ich glaube, er ist heute jagen gewesen. Ja, nicht wahr, ein wundervoller Abend! Das südliche Kreuz ist so nahe, daß ich es mit einer Stange herunterholen könnte, wenn ich auf einer Wolke stünde. Im Herz der Palme nebenan muß eine Grille sitzen. Welch ein Dingelchen, welch ein schwarzer, unerschrockener Arbeitsnerv! Ich liebe Aruki. Aber ich könnte vielleicht auch Zana lieben. Sie hat mich angesehen. Immerhin, um die Knie hat sie etwas, das rührt. Es sieht ein wenig rachitisch aus; möglicherweise ist es nur häßlich. Dennoch. Es liegt eine Menge von Lust in allem Wirklichen. Ja, mit der Stimmung ist es jetzt ein für allemal aus. Das menschliche Bewußtsein ist grausam. Es tötet Stimmungen, liebt Chirurgie, Wunden und Operationen.

Ich sehe dieses Dorf, und es fällt mir nicht ein, es exotisch zu finden. Wenn der Himmel nicht wäre: liegt es auf einer Alpendrift oder unter dem Äquator? Hier ist Arbeit, Betrieb, Geschäft und Transaktion. Eine kleine, niedliche Technik. Die Hauptsache ist, daß sich alles ziemlich eng um den Punkt des Daseins bewegt. Es könnte in einem Ameisenhaufen nicht stimmungsloser hergehen. Jawohl ja, Beobachtung ist alles. Slim hat recht, dieses Leben ist unsereinem im Grunde gar nicht so fremd – nur kompletter ist es. »Nun, Slim, wie denken Sie über ein Abendessen?« Ich ahnte, daß ich mich hier einmal heimisch fühlen würde.

»Passen Sie auf«, sagte Slim, »Zana wird – wird mit uns kommen!«

ICH WAR IN DER MONDRAKETENBAR

13. März 2010

– Auszüge –

Collagen von Frank Milautzcki mit dezenten Elementen von Jürgen Völkert-Marten (2003)

in der Online Version angereichert

mit Gedichten von Friedrich Wilhelm Wagner (1892-1931)

aus seinem Band „Jungfrauen platzen männertoll“ von 1920

In jeder Nacht

In jeder Nacht
Im kalten Monde
Weint ein Tier.

Das Nachthorn klagt
Am Saum der Wälder
Letztes Lied.

Ein Dunkles rinnt
Hinab das Leben
Stumm ins Grab.

Ballon

Ein Ballon bewegt sich leise.
Menschenhälse strecken sich.
Tramways stürzen aus dem Gleise.
Droschkengäule töten sich.

Auf den Dächern tanzen Greise.
Jungfraun platzen männertoll.
Ein Ballon bewegt sich leise,
Lächelnd und sehr würdevoll.

Kleine Stadt

Die Stadt liegt klein
Und grau in grauem Grunde.

In einer schwülen Abenddämmerstunde,
Wenn alles schwiege, auch die Hunde –
Dann könnt es sein:
Ein lautes Wort aus eines Menschen Munde –
Und Alles stürzte ein.

Idyll

In einer Kneipe. Sonntags. Auf dem Land.
Vier Frauen rund um einen Tisch.
Sie waren nicht mehr jung und frisch.
Und eine hatte eine verkrüppelte Hand.

Sie tranken Bier. Und plauderten. Eintönig.
Wobei sie mit den Köpfen nickten.
Und treu sich in die Augen blickten.
Und ihre Busen bebten schon ein wenig.

Bald machten Tränen ihre Augen naß.
Mit heißen Händen schlugen sie die Brüste.
Sie schwelgten wie im Taumel süßer Lüste.
Und kreischten gell. Und wußten selbst nicht was.

Vor dem Gewitter

Wolken rund und regenreif
Lasten auf der Stadt.
Ein begoßner Pudel – mit dem Schweif
Wedelnd – ist satt.

Leise fällt aus matter Hand
Totgeboren eine Tat.
Bebend eine Stimme bat –
Blitze spalten Luft und Land.

Sommertag

Die Sommersonne foltert fürchterlich
Den lahmen Leib. Kein Wind bewegt die Schwüle.
Der Asphalt stinkt. Es faulen die Gefühle.
Ein Droschkengaul verreckt am Sonnenstich.

Lustmörder lauern. Haften hart und heiß
Ist eine Mädchenhand und macht ermatten.
Die kleinen huren blühen blaß. Im Schatten
Steht statuenstarr ein blinder Bettelgreis.

Und von des Lebens fadem Einerlei
Gelangweilt döst auf schattigem Balkone
Und lauscht dem Lärm entfernter Grammophone
Ein fetter, fauler Papagei.

Episode

Auf stiller Promenade –
Die Stadt wird fern und grau –
Lustwandelnd geht die grade
Noch sonneweiße Frau.

Ein Reiter, rauh in Rüsten,
Reitet vorbei ins Land.
Die Frau hebt zu den Brüsten
Hastig hoch die Hand.

In stiller Sommernacht

Von Weiberblicken geil begriffen.
Ein Turnverein. Frisch, fröhlich, fromm und frei.
In stiller Sommernacht. Es hat gepfiffen –
Das war die Polizei.
Die fahndet auf Verbrecher.
Der dicke Mond beschmiert die Häuserdächer.

Im Café

Die Nacht ist langsam vorgeschritten.
Ein Gast klebt noch an meinem Tisch.
Auf einmal, in mein Glas geglitten:
Er schwimmt im Absinthe – dick, ein Fisch.

Bestaunend die Metamorphose,
Ich brech mir den Verstand entzwei.
In meiner Kehle hängt, sehr lose,
Ein gellender Entsetzensschrei.

Café in deutscher Stadt

Ein Kellnerfrack. Der Demut feile Geste
Geduckt ein Dichter nachsinnt neuer Pose.
Der feiste Wirt, in sehr befleckter Hose,
Breit grinsend grüßt die vornehmeren Gäste.

Ein Pikkolo verstummt vor schmalen Frauen.
Er starrt verstört. Die Geigen gurren geil.
Bebauchte Bürger, stämmig, steif und steil,
Glotzblickig blöde, dösen und verdauen.

Kokotten lächeln – sündeseliger Segen.
Sehr provozierend wirken neben fetten
Profitvisagen protzig Epauletten,
Verwelkte Weiber wonnig zu bewegen.

Der Dichter döst. Das Dudeln macht ihn dumm.
Ein grauer Greis sielt sich in Dreckjournalen.
Ein rauher Ruf zerreißt den Raum: „Bezahlen!“
Der Dichter geht. Sehr langsam, träge, krumm.

Welt

Die leeren Lustlokale.
An einem Fenster klebt
Ein kleiner Pikkolo.
Ein schweres Schweigen schwebt
Und liegt gelähmt im Tale.
Am nebligen Kanale
Rasen Rufe roh.
Hunde, herrenlose,
Heulen ungehört.
Der Mond, die große
Greise Himmelsrose,
Stiert verstört.

Gegen Morgen

Schreckhaft schreiten Polizisten.
Steil und stumm. Und stehn versteint.
Lange bei den Abfallkisten,
Die der dicke Mond bescheint.

Leise bleichen die Laternen.
Immer auf demselben Striche,
Unter den erstarrten Sternen,
Humpeln Huren, kümmerliche.

Bummel

In Autos steif die stolzen Offiziere.
Die schmalen Mädchen schmachten augenweit.
Geil gelle Geigen. In Cafés. Bei Biere
Und Zoten macht das Bürgerpack sich breit.

O Lächeln lockend lieblicher Kokotten!
Ein Weib verwelkt. Ein Jüngling sehnt sich sehr.
Die Sonne hat den Himmel rot gesotten.
Ein Schweigen schwillt und macht das Dunkel schwer.

Abend

Der Tag verklang
In einem rosenen Ton.
Das Wasser sang
Sich müde. Es dämmert schon.

Im tiefen Park erwacht
Leis ein Grauen.
Fröstelnd vor der Nacht
Stehn steinerne Frauen.

Der müde Mond

Der müde Mond geht in den Schluchten schlafen.
Weit wilde Wölfe heulen heiß und hart.
Der gute Hirt hockt bei seinen Schafen.
Die Stunden stehn. Die Sterne sind erstarrt.

Kein Wind ist wach. Kein Ruf erregt die Räume.
Auf fernem Felde furchtbar tobt die Schlacht.
Ein Kind weh weint auf Trümmern trüber Träume.
Besoffne Bürger. Eine Hure lacht.

UND TRUG WAS NOFRE TÄTE FORT

13. März 2010

-Auszüge –

Eine Kollaboration mit Alexander Nitsche (2003)

in der Online-Fassung angereichert mit „Sieben schizophrene  Sonette“  von Hugo Ball (1916)

und zwei weitere Gedichte

1.
Der grüne König

Wir, Johann, Amadeus Adelgreif,
Fürst von Saprunt und beiderlei Smeraldis,
Erzkaiser über allen Unterschleif
Und Obersäckelmeister vom Schmalkaldis

Erheben unsern grimmen Löwenschweif
Und dekretieren vor den leeren Saldis:
«Ihr Räuberhorden, eure Zeit ist reif.
Die Hahnenfeder ab, ihr Garibaldis!

Man sammle alle Blätter unserer Wälder
Und stanze Gold daraus, soviel man mag.
Das ausgedehnte Land braucht neue Gelder.

Und eine Hungersnot liegt klar am Tag.
Sofort versehe man die Schatzbehälter
Mit Blattgold aus dem nächsten Buchenschlag.»

2.
Die Erfindung

Als ich zum ersten Male diesen Narren
Mein neues Totenwäglein vorgeführt,
War alle Welt im Leichenhaus gerührt
Von ihren Selbstportraits und anderen Schmarren.

Sie sagten mir: nun wohl, das sei ein Karren,
Jedoch die Räder seien nicht geschmiert,
Auch sei es innen nicht genug verziert
Und schließlich wollten sie mich selbst verscharren.

Sie haben von der Sache nichts begriffen,
Als daß es wurmig zugeht im Geliege
Und wenn ich mich vor Lachen jetzt noch biege,

So ist es, weil sie drum herum gestanden,
Die Pfeife rauchten und den Mut nicht fanden,
Hineinzusteigen in die schwarze Wiege.

3.
Der Dorfdadaist

In Schnabelschuhen und im Schnürkorsett
Hat er den Winter überstanden,
Als Schlangenmensch im Teufelskabinett
Gastierte er bei Vorstadtdilettanten.

Nun sich der Frühling wieder eingestellt
Und Frau Natura kräftig promenierte,
Hat ihn die Lappen- und Attrappenwelt
Verdrossen erst und schließlich degoutieret.

Er hat sich eine Laute aufgezimmert
Aus Kistenholz und langen Schneckenschrauben,
Die Saiten rasseln und die Stimme wimmert,
Doch läßt er sich die Illusion nicht rauben.

Er brüllt und johlt, als hinge er am Spieße.
Er schwenkt jucheiend seinen Brautzylinder.
Als Schellenkönig tanzt er auf der Wiese
Zum Purzelbaum der Narren und der Kinder.

4.
Der Schizophrene

Ein Opfer der Zerstückung, ganz besessen
Bin ich – wie nennt ihr’s doch? – ein Schizophrene.
Ihr wollt, daß ich verschwinde von der Szene,
Um euren eigenen Anblick zu vergessen.

Ich aber werde eure Worte pressen
In des Sonettes dunkle Kantilene.
Es haben meine ätzenden Arsene
Das Blut euch bis zum Herzen schon durchmessen.

Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer
Behüten euch mit einer sichern Mauer
Vor meinem Aberwitz und grellem Wahne.

Doch plötzlich überfällt auch euch die Trauer.
Es rüttelt euch ein unterirdischer Schauer
Und ihr zergeht im Schwunge meiner Fahne.

5.
Das Gespenst

Gewöhnlich kommt es, wenn die Lichter brennen.
Es poltert mit den Tellern und den Tassen.
Auf roten Schuhen schlurrt es in den nassen
Geschwenkten Nächten und man hört sein Flennen.

Von Zeit zu Zeit scheint es umherzurennen
Mit Trumpf, Atout und ausgespielten Assen.
Auf Seil und Räder scheint es aufzupassen
Und ist an seinem Lärmen zu erkennen.

Es ist beschäftigt in der Gängelschwemme
Und hochweis weht dann seine erzene Haube,
Auf seinen Fingern zittern Hahnenkämme,

Mit schrillen Glocken kugelt es im Staube.
Dann reißen plötzlich alle wehen Dämme
Und aus der Kuckucksuhr tritt eine Taube.

6.
Der Pasquillant

Auch konnt es unserm Scharfsinn nicht entgehen,
Daß ein Herr Geist uns zu bemäkeln pflegt,
Indem er ein Pasquill zusammenträgt,
Das ihm die Winde um die Ohren säen.

Bald kritzelt er, bald hüpft er aufgeregt
Um uns herum, dann bleibt er zuckend stehen
Und reckt den Schwartenhals, um zu erspähen,
Was sich in unserm Kabinett bewegt.

Den Bleistiftstummel hat er ganz zerbissen,
Die Drillichnaht ist hinten aufgeschlissen,
Doch dünkt er sich ein Diplomatenjäger.

De fakto dient bewußter Schlingenleger
Dem Kastellan als Flur- und Straßenfeger
Und hat das Recht die Kübel auszugießen.

7.
Intermezzo

Ich bin der große Gaukler Vauvert.
In hundert Flammen lauf ich einher.
Ich knie vor den Altären aus Sand,
Violette Sterne trägt mein Gewand.
Aus meinem Mund geht die Zeit hervor,
Die Menschen umfaß ich mit Auge und Ohr.

Ich bin aus dem Abgrund der falsche Prophet,
Der hinter den Rädern der Sonne steht.
Aus dem Meere, beschworen von dunkler Trompete,
Flieg ich im Dunste der Lügengebete.
Das Tympanum schlag ich mit großem Schall.
Ich hüte die Leichen im Wasserfall.

Ich bin der Geheimnisse lächelnder Ketzer,
Ein Buchstabenkönig und Alleszerschwätzer.
Hysteria clemens hab ich besungen
In jeder Gestalt ihrer Ausschweifungen.
Ein Spötter, ein Dichter, ein Literat
Streu ich der Worte verfängliche Saat.

Cabaret

1.

Der Exhibitionist stellt sich gespreizt am Vorhang auf
und Pimpronella reizt ihn mit den roten Unterröcken.
Koko der grüne Gott klatscht laut im Publikum.
Da werden geil die ältesten Sündenböcke.

Tsingtara! Da ist ein langes Blasinstrument.
Daraus fährt eine Speichelfahne. Darauf steht: «Schlange».
Da packen alle ihre Damen in die Geigenkästen ein
und verziehen sich. Da wird ihnen bange.

Am Eingang sitzt die ölige Camödine.
Die schlägt sich die Goldstücke als Flitter in die Schenkel.
Der sticht einer Bogenlampe die Augen aus.
Und das brennende Dach fällt herunter auf ihren Enkel.

2.

Von dem gespitzten Ohr des Esels fängt die Fliegen
ein Clown, der eine andre Heimat hat.
Durch kleine Röhrchen, die sich grünlich biegen,
hat er Verbindung mit Baronen in der Stadt.

In hohen Luftgeleisen, wo sich enharmonisch
die Seile schneiden, drauf man flach entschwirrt,
Versucht ein kleinkalibriges Kamel platonisch
zu klettern; was die Fröhlichkeit verwirrt.

Der Exhibitionist, der je zuvor den Vorhang
bedient hat mit Geduld und Blick für das Douceur,
vergißt urplötzlich den Begebenheitenvorgang
und treibt gequollene Mädchenscharen vor sich her.

Der blaue Abend

Es wettert Lichtkomplex vom Himmel auf die Straßen,
Aus Fensterfronten wandeln hoch die blauen Huren.
Oh holde Stunde sanfter Mädchennasen,
Oh Unisono und Zusammenklang der Turm- und Taschenuhren!

Der Mond steigt in die Rundung metaphysisch höher,
Ein Pferd macht müde sich’s bequem in einem Vogelneste.
Verzückt entschwebt dem Volk ein violetter Seher,
Und schwarzer Violinklang tönt aus dem Asbeste.

Glasbläserei und Kuppel weißer Bögen,
Wölbt hoch euch aus dem Lichtkreis dieser Stadt!
Es ist, als ob aus Finsternis viel Tränen zögen
Und kranken Gottes Haupt erglänzet matt.

Es lehnen sich die Häuser blond zurücke.
Sind Türme weiße Engel, die entschweben.
Vom Himmel stürzt zur Hölle eine Brücke,
Auf der die Toten händeringend kleben.

IN EINEM ATEMZUG PASSAGIER

13. März 2010

– Auszüge –

Eine Kollaboration im Jahr 2001 mit Michael Fox, Hildesheim

Die Blätter dieser Kollaboration sind ringgebunden.

Der hier eingestreute Text von Walter Rheiner – ein Fragment gebliebenes Stück Prosa – findet sich nicht im Original des Kollaborationsbuches.

Walter Rheiner gehörte zu den führenden Köpfen des spätexpressionistischen Künstlerkreises »Gruppe 1917«. Während seiner letzten Jahre führte er ein unstetes Wanderleben in materieller Not und Drogenabhängigkeit. Nach Entmündigung und Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt beendete er 1925, gerade mal 30 Jahre alt, sein Leben mit einer Überdosis Morphium.

Walter Rheiner – Miramée

Das Verhängnis hub an in einer gläsernen Sommernacht auf dem Boulevard Poissonniére. Eine Dame sank um im Lichtkreis einer Laterne; ich fing sie in meinen Armen auf. Es war Miramée. Ihr Kopf lag an meiner Schulter. Das Antlitz tauchte, einer Insel gleich, traumhaft und weich aus dem Äther ihres Haars. Eine seltsame Schönheit ruhte in ihm, als sie einen Augenblick lang die Augen öffnete und sie langsam wieder schloß. Es war, als sei der lange Boulevard feierlich mit diesem Blick in sie eingeflossen und hinter ihren seufzenden Lippen vergangen. Sie schmiegte den Kopf tiefer zu mir, ihre Hände umklammerten sanft meinen Arm, und sie erholte sich ein wenig. »Es geht Ihnen nicht gut, Madame«, sagte ich leise. Sie flüsterte: »Ach, ich hab zu viel gelitten!«

Ich rief einen Wagen an. Als ich beim Einsteigen half und ihre Schwere einen Augenblick lang trug, fühlte ich, wie eine große gemeinsame Welle durch uns beide schwebte und sich im Fluss der Bäume und Laternen verlor.

Der Boulevard schien sehr schmal und malte hektische Bilder an die fließenden Fenster unseres Autos. Miramée lag groß in den Polstern. Manchmal warf ein Fenster, einem Scheinwerfer gleich, eine Kaskade von Licht auf ihren Schoß. Ihr blauseidenes Kleid glänzte auf. Unendlich hing ihr Blick an mir. Dann kam ein Augenblick, währenddessen ich deutlich begriff, daß ich sie früher schon einmal gesehen, gehalten, geliebt — geliebt haben mußte.

Wo sahn wir uns schon?

Miramée, in der Nacht trafen wir uns quer durch den schlimmen Schlaf der Weltstadt und durch die Nebel der Menschen, die des Nachts aufglimmen und durch die Straßen schreien ohne Stimme. Schon verstricken uns gnadenlose Fäden. Unsre Hände falten sich, und süß ist es, im Meer sich aufzulösen und durch die sieben Morgenröten zu hallen ohne Grenzen!

Dann waren wir in einem großen Hotel dicht bei der Madeleine, schattenhaft in einem gelben Zimmer. Ein Bett wuchs schwarz, war ein dröhnender Sarg. Der elektrische Kronleuchter, ein böses rotes Geschwür, neigte sich schwer darüber. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben, das makabre Wüten ihres Schicksals, mit einer verlorenen Stimme, die die Wände entlang schluchzte.

Soll ich das Lied singen, das zu mir kam, dieses Lied, das sich um den Eiffelturm spannt und wirbelt in einem unsäglichen vivace furioso? … das kreißte und Welten aufwarf von schluchzenden Dimensionen? — Apachen von Montmartre, Studenten des Quartier Latin, Amerikaner auf gewaltigen Schiffen und in schreienden Häusern, die des Abends Tausende von Menschen und Wasserfälle von Licht speien, erglühende Abende im Wald von Compiégne, fürchterliche Nächte in schmierigen und drohenden Hotels an den großen Boulevards, das Gleiten der Seine unter der Qual ihrer grauen Brücken, eine tiefe Liebe voll Angst und Not, steinerne Ärzte mit sachlichen Feststellungen, die feindseligen Betten der Salpétrière, und, durch dies alles hindurch, im Hunger geträumt, die bestürzende Silhouette des schlanksten aller Türme über Paris im unbegreiflichen Glanz des Morgenhimmels: Silber und Blei, schimmernd und dumpf …

Ich lauschte, lauschte, und leise bildete sich in mir ihr kleines, unwirkliches Profil, wie es oft gewesen sein mußte auf der schwebenden Höhe in den weiten Falten der Sacré-Cœur-Kirche nach der Beichte. Miramée stieg hinab auf Paris, rein und golden ihr Schritt, eine süße Cirruswolke, die zu uns Menschen kam und verging, verging in Rauch und Schlamm.

Lang blieb ich noch entrückt und jenseits. Dann grinste sich das Hier wieder in mich ein. Ihr Leib lag bloß und weiß im Bett, das mir wie ein endloses Meer schien, hallend und urhaft. Eine bleiche Sonne quoll durch die Gardinen hüstelnd über die Dächer des Madeleine-Viertels herein. Koste ihre rechte Brust. Die linke lag böse zerfressen und geschwürig, braun und voll tückischen Lebens. Ihr armer Leib war eine Grotte von faulenden Massen, mühsam verklebt und verbunden. Das rechte Bein, schwarz von sich abschälender Haut, ragte wie ein verbrannter Pfahl in die Luft. Und all diese Stellen, auf die sich die furchtbare Krankheit gestürzt hatte, schillerten von einem gespenstischen Leben. Fast schien die Verwesung schon beginnen zu wollen, und je mehr sie fortschritt, um so mehr schien es mir, als ob ein neues Wesen da entstände, aus ihren Augenhöhlen kicherte und in den Zähnen hinter den toten, hochgezogenen Lippen lebte.

Eine sinnlose Angst faßte mich. Die Glocken begannen zu läuten, lange schleiften ihre wilden Töne über mich hin. Waren es nicht schwere Silben, die sie lallten, langsam und groß: »MI-RA-MÉE, MI-RA-MÉE«? — Paris stand auf und brüllte mich an. Ich stürzte wie wahnsinnig aus dem Hotel, Straßenkämpfe schienen mir zu toben, die Untergrundbahnen brachen herauf und kamen empor, ein Bahnhof schwebte in der Luft.

Ich rannte, ohne Hut, ohne Besinnung.

In einer Vorstadt hielt ich an, erschöpft auf einer Bank. Dann verließ mich das Bewußtsein. Als ich aufwachte, hatte man mich in eine nahe Schenke gebracht. Dort reichte man mir Schnaps. Die Pariser Arbeiter umstanden mich in ihren blauen Blusen und diskutierten eifrig. Draußen, auf dem Boulevard Ornano, zitterte die Sonne, Spatzen piepsten, und vom Hof her kam das leise Singen eines kleinen unbewußten Dienstmädchens:

»C’est une belle gosse,
mais une sale rosse,
on ne devrait jamais l’approcher.
O quelle torture
que l’on endure,
quand on a le malheur de l’aimer!«

Ich aber ging, weiße Rosen in der Hand, langsam und leicht den Boulevard Ornano entlang, aus Paris hinaus, in die uferlosen Felder.

DIE COLLAGE ERFINDET DAS MÖGLICHE

13. März 2010

Über ein Projekt mit Kollaborationsbüchern

Collagen sind lange schon in. In der Hauptsache die Dadaisten haben uns den Weg gewiesen und aus Abfallpapieren und Presse der Zeit intensive Ausrufezeichen collagiert – „soweit ist es mit der Welt gekommen – auf den Telegrafenmasten sitzen die Kühe und spielen Schach!“ Richard Huelsenbeck – die zeigen, daß Kunst durch Zerstörung von altem Sinn und Routine, von Tradition und Muster, neu zusammengesetztes Bewusstsein hervorbringen kann, daß aus dem scheinbar Sinnlosen und aus zur Sprengung gebrachten Begriffen intuitiv anregende neue Weltsichten wachsen und um sich greifen können, die weder beabsichtigt noch vorhersehbar waren.

DADA Collage Raoul Hausmann

In Verlängerung des respektlosen Dada-Gebahrens und mit der Einführung des Gedankens des Recyclings als Kunstmöglichkeit in die Alltagswelt, hat sich das Collagieren in der Welt der Untergrund-Zeitungen der 60er Jahre bis hin zu den Fanzines und Punk-Zeitschriften der 80er Jahre und anderen Underground-Projekten als kunstvolles Stilmittel bewahrt und den sinnzerstörenden Charakter einer respektlosen Kunst in einen respektlosen Umgang mit Copyrightrechten und ein neuen Sinn stiftendes Recycling gewandelt. Ich denke dabei z.B. Rolf Dieter Brinkmanns legendäre Umschlagcollage für seinen Gedichtband „Die Piloten“, an Josef Wintjes’ legendäres Ulcus Molle Info, das eine ganz eigene Ästhetik über Jahrzehnte bewahrte, an Raymond Martins PÄNG, Werner Piepers KOMPOST, an die unzähligen studentischen und friedensbewegten bis anarchistischen Zeitschriften der 68er und Nach-68er bis hin zur Graswurzelrevolution. Zeitungen gestalten hieß: klauen & kleben was das Zeug hält.

Als altem Zeitungsmacher und Selbst-Lay-Outer[1] ist mir das schon seit Mitte der siebziger Jahre selbstverständlich – in Ermangelung eigener Grafik wurde aus allen möglichen Quellen zusammengeschnippelt und benutzt, was schwarzweiß genug war; mein Schatz war eine ausgediente Pralinenschachtel übervoll mit Schnipseln, ausgeschnittenen Grafikelementen, Lettersetfolien etc.. LAY-OUT, das Zauberwort für ansprechende ästhetische Präsenz, war für mich strenggenommen ein Collagieren, ein Zueinanderbringen und Miteinanderverbinden und immer auch ein haptisches Erlebnis mit Schere, Tipp-Ex, Papier, Klebstoff, verklebten Fingern.

Collagen sind im Umkreis der Mail-Art ein stark genutztes Ausdrucksmittel, sie sind für jeden erstellbar, und führen zu ebenso individuellen Ergebnisse wie der Pinselstrich. So waren Collagen eine rasche frühe Liebe bei meinen ersten Kontakten zur Mail-Art-Welt und wurden es im Zeitalter des w³ noch mehr.

In der Mail-Art-Welt entwickelte sich, eher zwangsläufig als zufällig, die Idee, verschiedene Menschen an ein und demselben Bild per Collagieren mitwirken zu lassen und entsprechend gibt es dort regelrechte Spezialisten, die das dualistische Add + Return ausgeweitet haben zu einem Rundbrief-Modell. Und eine weitere Idee befällt früher oder später jeden, der einmal in einem kreativ brauchbaren Dialog mit einem anderen Künstler stand und das Resultat einer ersten Zusammenarbeit vor sich hat. Ideen entstehen rasch und ohne Vorwarnung – eine ungeahnte Liaison zweier eigentlich voneinander unabhängiger Gedanken, dazu eine Vision, ein aufscheinender Pfad. Die Idee bindet aneinander, was zu ihr gehört und sortiert die Wirklichkeit in brauchbare Quanten. So korrodiert das Denken des Unmöglichen und macht Raum für Undenkbares möglich. Die Idee der Kollaboration entsteht. Kollaboration[2] als künstlerischer Dialog.

Die Idee zu so einem  Projekt ist nicht meine eigene. Sie ist Bestandteil und Instrument der Mail-Art schon seit langem und zeigt stellvertretend den inspirierend anarchischen Charakter dieser Kunst, die sich über Eigenschaften und nicht über Stil und Inhalt definieren lässt. Der Gedanke, individuellen künstlerischen Ausdruck gleichberechtigt miteinander zu verbinden, liegt allen Mail-Art-Unternehmungen zu Grunde. Meist verwirklicht in Ausstellungen und damit in einem Nebeneinander. Einige Mail-Artisten gehen weiter und stellen nicht einzelne Kunstwerke in einen demokratischen Konsens, sondern erstellen gemeinsam das Kunstwerk. Indem eine Vorlage zu einem Partner geschickt wird, der frei darüber verfügen und darauf weiterarbeiten kann, vertraut man ihm grenzenlos das Eigene in seiner künstlerisch extrahierten Erscheinung an. Starke Partner geben grenzenlos das Ihre dazu und so entstehen Werke aus der Konfrontation und dem gewollten, friedlichen Konflikt zweier persönlicher Kunstwelten, die von keinem einzeln zu leisten gewesen wären. Je intensiver die individuelle Mythologie gelebt und in der Kunst manifest ist, um so intensiver ist der Konflikt und überraschender sind die Resultate. So können Grenzen des Eigenen verschoben, erweitert, überhaupt geschaut werden und so kann Verstehen eine besondere Form annehmen, die aus der ichlosen Mitte eine vielseitigere Wahrheit der Welt zu generieren hilft.

Das erste Mal tauchte die Idee zu diesem Projekt auf in einer Korrespondenz mit Michael Fox, dem Hildesheimer Mail-Artisten. Sie verknüpfte seine eigenwillige Art der Collage, die er dezent und spartanisch auf grellfarbene, selbst hergestellte Hintergründe komponiert mit meiner Liebe zu eher improvisierender Schwitterschen Form- und Materialkombination und zu surrealen Elementen. Ich hatte ihm Seiten vorgelegt, die er in souveräner Manier zu Hintergründen und Bestandteilen seiner ganz eigenen Collagen machte und ein kurzer heftiger Briefwechsel hob an (der irgendwann aufgrund meiner Phasensprünge in Sachen Kunst und/oder Leben jäh abbrach) – Resultat war ein spiralgebundenes Buch mit den ersten Seiten Kollaborationen.

Schon die Tatsache, daß Michael Fox diese spezielle Bindung benutzte, die normalerweise Bürodamen reserviert ist, um Werbebroschüren & Industrieangebote individualisiert und repräsentierend zusammenzufassen, und eigentlich nicht um Kunstbände zu erstellen, das hatte etwas – aufmüpfig, trotzig, pourqoui pas? Einfach und funktionell und der ursprünglichen Verwendung entfremdet. Ja, so konnte man das machen. Und so konnte man die Blätter noch ungebunden in die Welt schicken, die handwerklich wesentlich einfacher (auch intensiver) zu bearbeiten waren, als wenn sie vorneherein eingebunden wären.

Also schickte ich solche Blätterensembles in die Welt, ich nannte sie „Vorlagenbücher“, waren im Prinzip nur ein Sammelsurium angefangener Collagen, Texturen, Hintergründe mit wenigen ersten Elementen. Das einzelne Blatt sollte schon eine Vorgabe machen, aber noch nicht zu fertig sein, es sollte inspirieren aber nicht einengen und die Reihenfolge der Seiten war offen. Ich sandte in oft großen Abständen nur wenigen Menschen so ein „Vorlagenbuch“, nicht wahllos in die Mail-Art-Welt hinein, sondern bewusst einzelnen Personen, mit denen ich in vertrauensvollen Kontakt geraten war und von denen ich sicher sein konnte, daß sie die Mühe nicht scheuen würden, so ein Buch zu bearbeiten.

Hintergrund war von Anfang an auch, daß die Bücher eines Tages ausgestellt werden würden. Nicht nur – in Auszügen –  auf dieser website,  was eigentlich nur so eine Art Zwischenbilanzierung ist, sondern irgendwann am Ende, wenn eine bestimmte Anzahl erreicht sein wird und das Projekt damit zu Ende geht und dann in konservativer, physischer Form.
Über die letzten Jahre sind bis heute 14 solcher handgearbeiteten Bücher zusammengekommen und sie sind mir ein großer Schatz, denn sie drücken in etwa das aus, was mir an einem persönlichen Netzwerk gut und teuer ist – daß man sich Mühe miteinander macht, daß man füreinander fraglos Energien einbringt, ohne jemals eine andere Dimension als die des Persönlichen und der persönlichen Kunst und Kunstfertigkeit einzubeziehen. Da fragt niemand nach Nutzen, nach Kosten, nach Gewinn oder Verlust. Hier ist eine tatsächlich anarchische Welt zuhause und es liegt dem ein freier Geist zugrunde, der so andernorts nicht mehr zu verwirklichen ist. Wer sich auf das Spiel einläßt, hat die Regeln assimiliert. Regeln, die im Eigentlichen sagen: Tu was Du willst, aber tue es richtig – halte nicht hinterm Berg, sei fair dadurch, daß du dich wirklich einbringst – auf das jeweils vor einem liegende Blatt bezogen heißt das: überklebe, übermale, entferne, füge hinzu, äußere dich s/w oder in Farbe, großflächig oder im Detail – ganz wie es dir, deinem Naturell entspricht. Die Collage ist dazu ja auch ein ideales Mittel, da es in der Wirklichkeit vor keiner Technik haltmacht: man kann auch Worte zueinanderbringen (Cut-Ups), man kann auch Bildinhalte zeichnerisch verbinden (irgendein Kunstforscher meint neuerdings herausgefunden zu haben, daß der größte Teil des Werks von Max Ernst[3] dem Prinzip der Collage unterliegt, auch die Frottagen, die Gemälde und die Zeichnungen – demnach aber, ganz konsequent zu Ende gedacht, wäre fast alle moderne Kunst diesem Prinzip unterworfen, denn streng genommen bringt der Künstler immer Dinge zueinander, kombiniert Inhalte, Formen, Farben), man kann per Hand Kolorieren, Demontieren und und und. Man kann machen und tun in diesen Vorlagenbüchern (die ja zunächst nur vor einem liegende Blätter sind, aber immerhin bis zu 40 Seiten je „Vorlagenbuch“ und damit nicht in einem schnellen Aufwasch zu erledigen, sondern zwangsweise über längere Zeit, von Zeit zu Zeit), was immer man möchte. Auch Angst zeigen und Muffe haben.

Kurt Schwitters

Und so erreichten mich auch „bearbeitete“ Bücher[4], die kaum fremde Spuren aufwiesen, die schüchtern das Vorgelegte ergänzt hatten, mit feinem Strich zu erweitern versuchten, aber auf irgendeine Art und Weise unfertig schienen, weil wohl in zu großem Respekt vor dem Vorgelegten entstanden (oder im Zweifel über die eigene Leistung) – diese Bücher gingen dann noch einmal durch meine Hand – das behielt ich mir vor, daß auch ich noch einmal wirken konnte, verstärken, abschwächen, draufhauen, streicheln, wenn ich es für notwendig hielt. In den allerallermeisten Fällen aber war das Buch fertig, wenn es zurückkam, eindeutig und nicht mehr zu ändern.

So kann das Prinzip der Collage, das Erfinden des Möglichen, zu einem Prinzip einer Zwiesprache werden – in der Kollaboration werden personale Grenzen gerade durch ihre konkrete Setzung und bewußte Definition auf einem gemeinsamen Blatt aufgelöst und damit neues Terrain gefunden, so paradox das klingen mag. Je persönlicher die Stellungnahme des Einzelnen, das Additiv, umso lebendiger der Dialog, das Ensemble, umso einzigartiger die Zwiesprache und ihr Resultat, und um so grenzenauflösender die Wirkung. Der Zwischenmensch wird hier erfunden, einer der mit dem anderen kann, der sich mit dem Anderen nicht stößt, sondern erst durch ihn und mit ihm zum Leben kommt.

Frank Milautzcki, Klingenberg den 23.05.2006


[1] Für mich begann es mit der Schülerzeitung des Gymnasiums, wir machten eine Sondernummer über Gedichte aus dem Knast und wurden glatt verboten. Dann gaben wir eine unabhängige Jugendzeitschrift heraus, schließlich folgten ein Versand für alternative Literatur und später auch ein Cassettenlabel mit angeschlossenem Independent Vertrieb. Schließlich wollten die Rock- und Jazzkapellen aus der Gegend eigene Plakate haben und das Jugendzentrum lud zu irgendwas ein – so gab es immer Verwendung für den Self-made-Layouter.

[2] Kollaboration bezieht sich für mich und meine Projekte immer auf die Zusammenarbeit mit jeweils nur einem weiteren anderen Künstler.

[3] Max Ernst gibt auch eine sehr sinnvolle und brauchbare Definition der Collage: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.

[4] Es liegt manchmal auch in der Natur der Sache, weil bisweilen Bearbeitungen auch von dichtenden Kollegen erfolgten, die im Bildnerischen weder geübt noch bewandert sind und so sich Impulse oft eher aus der Zufügung von Text und textähnlichen Strukturen ergaben. Eine Lieblingsidee ist mir – by the way – auch das gemeinsame Verfertigen von Gedichten, wie es einmal Rainer Brambach und Jürg Federspiel gemacht haben, indem Textpassagen aufeinander aufbauten und Verse nacheinander zueinander fanden.